Mehr als zwölf Jahre habe ich für eine coole und innovative Branche gearbeitet. Ich durfte ihre Interessen vertreten und war als Tarifverhandlungsführerin maßgeblich an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen für über 100.000 Mitarbeiter/-innen deutschlandweit beteiligt.
In dieser Zeit bekam ich die Gelegenheit, so ziemlich alle in einem Verband anfallenden Tätigkeiten auszuüben – Referentin in der Rechtsabteilung, Interims-Referentin für Aus- und Weiterbildung, Leiterin der Rechtsabteilung, stellvertretende, Interims- und schließlich Hauptgeschäftsführerin. So konnte ich die vielen Facetten der Verbandsarbeit – positive wie negative – selbst erleben und mich intensiv mit Kolleg(inn)en zu Herausforderungen, Meilensteinen und Erfolgen austauschen.
Dabei wurde deutlich – und da erzähle ich Ihnen nichts Neues –, dass wir trotz völlig unterschiedlicher Branchen viele gemeinsame Anliegen haben. So war es für mich naheliegend, mich auch in der DGVM zu engagieren. Seit Juni 2022 darf ich als Vorstandsmitglied Verbände und ihre hauptamtlichen Mitarbeiter/-innen branchenübergreifend bei ihrer täglichen Arbeit unterstützen, sie miteinander vernetzen, mit meinen Vorstandskollegen gemeinsam neue Impulse für die Verbandsarbeit setzen und Ihnen als Sparringspartnerin und Beraterin zur Verfügung stehen.
Eine der größten aktuellen Herausforderungen ist der Fach- und Führungskräftemangel. In der DGVM-Jahresumfrage 2023 wird – neben der Digitalisierung oder der Mitgliedergewinnung – die Personalsuche als „extrem schwierig“ bezeichnet. Verbände geben an, dass sie immer größere Probleme haben, geeignete Mitarbeiter/-innen für die Geschäftsstellen zu finden, und dass sich dieser Trend in den letzten zwei Jahren massiv verstärkt habe. Wir haben es längst nicht mehr mit einem abstrakten Drohszenario zu tun. Stellen, sei es auf Referenten-, Abteilungsleiter-, aber auch auf (Haupt-)Geschäftsführerebene, bleiben oft monatelang vakant.
Als ich mich 2010 als Referentin beworben habe, hatte ich einige Konkurrenz, und ich hoffte und bangte, mich durchzusetzen – und ja, ich nahm das im Vergleich zu anderen Angeboten niedrigere Gehalt gern in Kauf. Umzug in ein anderes Bundesland? Keine Frage, natürlich, denn ich sah die Gestaltungsmöglichkeiten und wollte diese Stelle, bei diesem Verband, unbedingt haben. Und als es ein paar Jahre später um die Position der Hauptgeschäftsführung ging, konnte das Präsidium erneut aus einer beeindruckenden Gruppe sehr unterschiedlicher und hervorragend geeigneter Kandidat(inn)en auswählen.
Verbände konnten sich offenbar lange auf eine, wie ich gerne sage, „natürliche Anziehungskraft“ verlassen. Menschen, die in Verbänden arbeiten, tun das meist nicht zufällig. Wir entscheiden uns bewusst für eine bestimmte Branche, Richtung, Seite, Gruppierung usw.
Der demografische Wandel macht aber auch vor den Verbänden nicht halt. Viele Renteneintritte stehen uns bevor, Bekanntheitsgrad und Attraktivität der Verbände nehmen außerdem weiter ab. Hinzu kommt die Konkurrenz zur Privatwirtschaft. Letztere scheint attraktiver zu sein, zahlt sie doch die höheren Gehälter, bietet mehr Flexibilität und moderne Arbeitszeitmodelle.
Die Arbeitswelt und -kultur hat sich verändert. Verbände sind davon nicht ausgenommen und nein, es gibt kein „Zurück zum Normal“. Das Hier und Jetzt ist der Normalzustand und der Wandel wird weitergehen! Die Welle der Kündigungen nach der Pandemie ist immer noch nicht gebrochen. Viele Beschäftigte und Führungskräfte planen in der nahen Zukunft zu kündigen oder schauen sich bereits aktiv nach – besseren – Alternativen um.
Verbände, die davon betroffen sind – Achtung! Vielleicht wissen sie das noch gar nicht –, können dem entgegenwirken und sogar die besagte bessere Alternative sein.
Zahlreiche Studien und auch die oft zitierte anekdotische Evidenz aus persönlichen Gesprächen führen vor allem folgende Gründe für den Wunsch nach einem Jobwechsel an: finanzielle Anreize, bessere Work-Life-Balance und eine höhere Flexibilität, bessere Karrierechancen, sinnvolle Tätigkeit(en). Angegeben werden außerdem schlechte Arbeitsumfelder oder schlechte Vorgesetzte. Damit einher geht auch eine kürzere Verweildauer bei einem Arbeitgeber.
Wenn man als Verband all diese Gründe kennt, den Bewegungsdrang der Mitarbeiter/-innen als Chance versteht und davon ausgeht, dass Menschen eher „hin zu etwas Besserem“ tendieren, als „weg von etwas Schlechtem“ zu wollen, dann ist das ein guter Ansatz, um sich am Arbeitsmarkt und im Wettbewerb um Talente zu behaupten. Denn all das sind Faktoren, die Verbände in ihrem Sinne beeinflussen können, und viele tun das bereits erfolgreich.
Wo die früher so selbstverständliche „natürliche Anziehungskraft“ nicht mehr ausreicht, muss auch das Recruiting neu gedacht werden. Bewerber/-innen fliegen den Verbänden nicht mehr zu, sondern müssen mobilisiert werden. Im eigenen Netzwerk fündig werden zu wollen, mag attraktiv erscheinen, kennt man sich doch untereinander in der Familie der Verbände. Aber wir wissen auch, dass das Verbandsumfeld hochpolitisch ist – und es kritisch werden kann, Talente von anderen Verbänden anzusprechen.
Ich selbst habe mich mit meiner neuen Tätigkeit aufgemacht, genau an dieser Stelle anzusetzen und den Verbänden dabei zu helfen, die richtigen Köpfe für sich zu finden. Eine ausgesprochen spannende Aufgabe, wie ich finde. Die Zusammenarbeit mit einer Personalberatung sollten Verbände als Chance sehen, denn als spezialisierter Personalberater kennt man die Bedürfnisse und die Besonderheiten des Kunden – und auch diejenigen, die sich bewegen wollen.
Aber auch Personalberater können nicht zaubern. Die Entscheidung für oder gegen ein Angebot hängt am Ende immer von der Attraktivität des potenziellen neuen Arbeitgebers ab. Und: Gute Kandidat(inn)en für sich zu gewinnen, ist das eine – sie zu halten, ist ebenso wichtig. Denn ein eingespieltes, kompetentes und engagiertes Team einer Verbandsgeschäftsstelle ist ein ganz entscheidender Faktor für den Erfolg des gesamten Verbandes.
Mitarbeiter/-innen legen mehr denn je Wert auf eine für sie passende Work-Life-Balance und Flexibilität und achten stärker auf ihr Wohlbefinden. Wer das respektiert und möglich macht, wird auch in schweren Zeiten die besten Mitarbeiter/-innen finden und erleben, wie eine bedürfnisorientierte Zusammenarbeit zu mehr Engagement, mehr Erfolg und einer hohen Identifikation mit den Zielen des jeweiligen Verbands führt.
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